Was für einen Zucker soll ich da bitte rein rühren?

Sandra Winterbach
6 min readApr 12, 2021

„Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade draus.“ Das habe ich 2008 als Spruch in meine Bewerbung für meine Gastfamilie in Australien geschrieben. Glas halb voll oder halb leer. Und so weiter. Bei Getränken ist das Konzept von: „Es kommt immer drauf an, was man draus macht“ irgendwie lustig, locker und klar. Natürlich ist das Glas immer halb voll! (Am besten mit Limonade, versteht sich…)

Aber kann man das wirklich auf alle Lebenslagen übertragen? Hängt alles tatsächlich nur davon ab, wie ich auf die Dinge schaue? Wie macht man denn „Limonade draus“, wenn das Problem nicht aus Vitamin-C-haltigen Zitrusfrüchten besteht, sondern, zum Beispiel, aus einer Fehlgeburt und einem seit 14 Monaten unerfüllten Baby-Wunsch?

Meine Zitronen in diesem Fall: Unsicherheit, Zweifel, Rückenschmerzen, Bauchkrämpfe, Brustziehen, Erschöpfung, Pickel, Blut, enttäuschte Hoffnungen, Verlust, Trauer, Hilflosigkeit. Und nicht einmal, sondern in unterschiedlichen Kombinationen und Intensitäten alle paar Wochen aufs Neue. Ganz schön bitter. Was für einen Zucker soll ich da bitte rein rühren?

Ich will nicht so tun, als würde mich das alles mittlerweile überhaupt nicht mehr tangieren. Ich habe immer noch in jeden Zyklus ein paar Tage, an denen ich nicht sonderlich gut drauf bin. (Nächste Woche ist es vermutlich wieder so weit, also nicht wundern…) Aber ich mache mich nicht mehr wochenlang verrückt. Und ich bin auch nicht mehr so verzweifelt, wenn ich mir eingestehen muss, dass es wieder einmal nicht geklappt hat.

Manches von dem, was ich schreibe, würdest du vielleicht lieber nicht lesen. Aber ich möchte gerne mit dir Teilen, welche Zutaten ich gefunden habe, die dieses ungenießbare Gebräu für mich in einen bitter-süßen Cocktail verwandelt haben. (Ich finde das sind die besten!)

Zucker des Wissens

Ich hätte niemals erfahren, wie viele Frauen und Paare ich kenne, die selbst (teilweise mehrfach) eine Fehlgeburt durchleben mussten. Oder ihr Kind tot geboren haben. Oder ihr Kind nach nur wenigen Monaten plötzlich beerdigen mussten. Bis Februar wusste ich von einer einzigen Fehlgeburt. Und mehr wusste ich nicht. Die Frau hatte eine Fehlgeburt. Punkt. Jetzt weiß ich von so vielen persönlichen Schicksalen, dass ich aufgehört habe sie zu zählen. Meine Frauenärztin sagte mir: „Wenn eine Frau mindestens zwei Kinder hat, ist es wahrscheinlicher, dass sie irgendwann auch eine Fehlgeburt hatte, als dass sie keine hatte.“ WHAT?! Das ist wohl die ungeschminkte Übersetzung von: „In den ersten drei Monaten kann immer noch viel passieren.“

Ich war völlig überfordert, als man mir im Krankenhaus sagte: „Ja, der Embryo hat sich leider nicht richtig entwickelt. Möchten Sie Tabletten schlucken um die Schwangerschaft zu beenden oder eine Ausschabung haben?“ Erstmal informiere ich mich, dass eine „Ausschabung“ eine OP ist, in der eine Art Vakuumstaubsauger in die Gebärmutter gezwängt wird und die Überreste der Schwangerschaft heraussaugt. Geschabt wird da im besten Fall nicht viel. Die Tabletten verursachen hingegen leichte Wehen, mit deren Hilfe der Körper das Gewebe selbst ab- und ausstoßen soll. Manchmal reicht das aber nicht und es muss trotzdem noch eine Ausschabung gemacht werden. Ich möchte nur weinen, aber trauern muss ich anscheinend später. Während ich alles nach ein paar Stunden zuhause im Klo herunterspüle beispielsweise und natürlich danach. Erstmal muss ich Formulare unterschreiben und Entscheidungen treffen. Ich nehme die Tabletten und alles klappt „gut“. Grandios.

Ich habe so viel darüber gelernt, wie mein Körper funktioniert. Dass es einige Monate dauern kann, bis die eigenen Hormone sich richtig einpendeln, wenn man 13 Jahre lang mit Hormonen verhütet hat. Was diese Hormone eigentlich alles machen und warum. Dass Sex zwar notwendig ist um schwanger zu werden, aber die meiste Zeit im Zyklus völlig wirkungslos bleibt. Und selbst wenn man zufällig einen der wenigen relevanten Tage getroffen hat (die man schlecht vorhersagen kann) und Eizelle und Spermium zufällig zusammenkommen, noch immer unendlich viele Dinge schief gehen können und die Schwangerschaft nie richtig beginnt.

Heute habe ich viel dazu gelernt, aber es haben sich auch neue Fragen für mich ergeben. Muss Aufklärung für junge Mädchen wirklich hauptsächlich daraus bestehen, dass man uns Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft macht? Sollte man alle anderen Informationen im Zweifel weiterhin lieber weglassen? Gibt es nicht zumindest irgendwann mal einen Zeitpunkt, an dem man diese noch nachreichen sollte? Muss ich mir das alles selber im Internet ergoogeln und irgendwie versuchen die unsinnigen Behauptungen von den tatsächlichen Informationen zu unterscheiden? Habe ich einfach nicht aufgepasst, als das alles erklärt wurde? Oder halten wir es für sinnvoll, dass ich mich mit solchen Themen das erste Mal im Krankenhaus auseinandersetze, während ich gerade unter Schock stehe? Nein, das halte ich nicht für sinnvoll. Darum versuche ich möglichst vielen Menschen davon zu erzählen. Und darum schreibe ich diesen Text.

Zucker als Stärke
(Immer schlecht, wenn man Witze erklären muss. Aber das soll ein Wortwitz sein, weil Speisestärke aus Zuckerketten besteht und so… In Chemie habe ich immerhin aufgepasst!)

Ich habe nicht nur einen Intensivkurs in Biologie, Medizin und Soziologie am eigenen Körper absolviert. Ich erarbeite mir gerade auch Ehrenurkunden in Fähigkeiten wie Geduld, Vertrauen, und Bescheidenheit. Etwas schockiert musste ich im Nachhinein feststellen, dass keine der oben genannten Eigenschaften letztes Jahr um diese Zeit zu meinen Stärken zählte…

Unter all den Erkenntnissen, die ich mittlerweile gesammelt habe, ist diese für mich die wertvollste: Ich mache kein Baby. Und ich plane auch kein Baby. Ein neues Leben wird mir geschenkt, wenn es soweit ist und nicht, wann es mir in den Terminkalender passt. Ich kann nicht viel mehr tun als es willkommen zu heißen, damit es in mir wachsen kann. Mein Baby ist auf mich angewiesen. Aber es hat sein Leben vom allerersten Moment an trotzdem selbst in der Hand. Ich kann es nicht dazu zwingen, mein Angebot auch anzunehmen.

Diese Erkenntnis hat mir mein erstes Kind geschenkt. Wir hatten nur sechs Wochen zusammen. Es war medizinisch gesehen nie viel mehr als ein Zellhaufen in meiner Gebärmutter. Trotzdem hat es mich für immer verändert. Ich denke, es hat mich zu einer besseren Mutter gemacht. (Stellt euch vor, ich wäre letztes Jahr im Juni schwanger geworden. Ich hätte das Kind wahrscheinlich sein Leben lang als mein Eigentum betrachtet und ihm ständig vorgehalten, dass es mir nicht mehr Dankbarkeit entgegenbringt… Brr!)

Und es hat mir das Vertrauen geschenkt, dass ich schwanger werden kann. Ich zweifle nicht mehr daran, dass wir früher oder später auch eine richtige Geburt erleben und unser Kind in den Armen halten werden. Und für das alles bin ich sehr dankbar. Auch wenn die Geduld mich nach wie vor regelmäßig mal mehr und mal weniger hart auf die Probe stellt.

Zucker der Inspiration

Was das alles mit meinem Weg in die Selbstständigkeit zu tun hat? Eine Menge. Zum einen, weil mir meine Coaching Kollegen durch diese Zeit geholfen haben wie niemand sonst. Weil sie mich inspiriert und kompetent angeleitet haben, die Limonade in diesem Haufen Zitronen rauszuschmecken. Weil ich aus tiefstem Herzen weiß, dass Coaching das Leben eines Menschen positiv beeinflussen kann und dieses Geschenk — dadurch umso mehr — gerne weitertragen möchte. Weil ich zwar die letzten zwei Wochen im März krankgeschrieben war, aber einen Tag nach meiner Fehlgeburt trotzdem jemand anderen gecoacht und mich für diese zwei Stunden absolut toll gefühlt habe. (Während ich von meinem „richtigen“ Job absolut nichts wissen wollte.) Weil mein ausgeklügelter Masterplan eigentlich vorsah, dass ich meine Selbstständigkeit während der Elternzeit starte, damit ich im Zweifelsfall einfach nach zwei Jahren wieder zu meinem Job zurückkehren kann. Weil dieser Plan nicht funktioniert und die Ungewissheit mich wahnsinnig gemacht hat und ich darum all meinen Mut zusammengenommen habe, um zu kündigen. Weil ich jetzt unheimlich stolz bin die Sandra zu sein, die ihr eigenes Leben selbst in die Hand nimmt und nicht die, die unglücklich rumsitzt und lauter Pläne schmiedet, aber nichts macht. Weil ich Limonade gemacht habe und weil ich ab und zu sehe, wie meine Geschichte auch andere Menschen inspiriert an ihrem eigenen Rezept zu tüfteln.

Auch du hast jetzt die Wahl. Du kannst dir von meiner viel zu detaillierten Erzählung die Stimmung vermiesen lassen. Oder du machst was anderes draus?

Diesen Text schrieb ich erstmals im Sommer 2020 und veröffentlichte ihn im Herbst hier auf Englisch. Heute erscheint er nachträglich auch auf Deutsch. Wie es danach weiter gegangen ist, liest du hier.

Falls auch du mit diesem Thema deine eigenen frustrierenden und traurigen Erfahrungen machst und dich nicht länger ratlos und allein mit dem Thema fühlen möchtest: sende gerne eine Email an diecrew@inspireallies.com. Du bist nicht allein. Und ich glaube an dich.

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Sandra Winterbach

Inspires allies through coaching and writing after leaving her global corporate career in the midst of the pandemic. Busy creating a new way to do things right.